Freitag, April 19, 2024
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Keine Evidenz für IfSG-Novelle

Am 21. April 2021 hat der Bundestag die sogenannte Notbremse gezogen und einer Verschärfung des Infektionsschutzgesetzes zugestimmt. Über einen Automatismus soll nun ab einem Inzidenzwert von 100 positive Getesteten auf 100.000 Einwohner eine Vielzahl von Massnahmen in Kraft treten. Befremdlich dabei: Kurz nach der Verabschiedung des rechtsstaatlich problematischen Gesetzes, das den gesundheitspolitischen Föderalismus außer Kraft setzt und der Regierung weitreichende Sonderbefugnisse einräumt, werden von den gleiche Institutionen, welche die angstbasierten Begründungen für die Verabschiedung der Novelle geliefert haben, ebendiese Begründungen wieder zurückgenommen.

Merkel hatte in der ersten Lesung ihren Gesetzvorstoss wie folgt begründet:  „Es führt kein Weg daran vorbei, wir müssen die dritte Welle der Pandemie bremsen und den rapiden Anstieg der Infektionen stoppen.“ (…) Merkel betonte: „Die Intensivmediziner senden einen Hilferuf nach dem anderen“ und fügte hinzu: „Wer sind wir denn, wenn wir diese Notrufe überhören würden?

In der zweiten und dritten Lesung äußerte Jens Spahn, dass in den Intensivstationen immer mehr Patienten versorgt würden, die Lage in den Krankenhäusern sei wieder dramatisch, eine Überlastung des Gesundheitssystems müsse vermieden werden. (…) Impfen und testen allein reiche aber nicht, um die dritte Welle zu brechen.

Im Vorfeld waren angsttreibende Prognosen kursiert. So hatte z.B. der Berliner Mobilitätsforschers Kai Nagel Mitte März für Anfang Mai Inzidenzen von über 1000 vorhergesagt, im ungünstigsten Fall sogar über 2000, eine Einschätzung, die Politik und Medien gerne zitiert hatten, unter anderem der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach.

Zentral in der Regierungskommunikation war die laut Tagesschau-Faktenfinder aufsehenerregende Prognose des RKI vom 12. März 2021, die bei fortlaufender Entwicklung eine bundesweite 7-Tage-Inzidenz von über 300 in der Kalenderwoche 15 vorhersagte. Dort hieß es: „Die Extrapolation der Trends zeigt, dass mit Fallzahlen über dem Niveau von Weihnachten ab KW 14 zu rechnen ist.“ Prof. Christian Drosten hatte die RKI-Projektion kurz zuvor in seinem NDR-Podcast zur „amtlichen Auffassung von dem, was uns in den nächsten Wochen bevorsteht.“ deklariert, wie die Tagesschau berichtet.

Nach der RKI-Prognose hätten bereits in der Woche nach Ostern Inzidenzen von 250 und mehr erreicht werden müssen.

Jedoch, stellt der Tagesschau-Faktenfinder fest: „Die vom RKI real gemeldeten Fallzahlen liegen bis heute deutlich unter dieser Prognose: Mit derzeit leicht über 160 Fällen auf 100.000 Einwohner in sieben Tagen erreicht die Inzidenz nicht einmal die Hälfte des Wertes, den das RKI Mitte März für die aktuelle Kalenderwoche vorhergesagt hatte. Und das, obwohl entscheidende Verschärfungen der bundesweit getroffenen Maßnahmen seitdem nicht nur weitgehend ausblieben, sondern es an manchen Orten sogar zu weiteren Lockerungen und Modellversuchen kam.“

Am Tag der Zustimmung zur „Notbremse“ liest man folgende Entwarnung bezüglich der angeblich bevorstehenden extremen Welle im Faktenfinder: „Zumindest für März und weite Teile des Aprils hat sich diese Prognose nicht bestätigt. Insgesamt bleibt die Vorhersage der kommenden Infektionszahlen ein unsicheres Geschäft.“

Kurz zuvor, am 15. April 2021, schreibt der Wissenschaftsjournalist Hinnerk Feldwisch-Drentrup auf Twitter: „Vor ~5 Wochen veröffentlichte das RKI eine einfache Hochrechnung für die nächsten Wochen, die Aufsehen erregte & leider vielfach als Prognose bezeichnet wurde – aber so nicht zutraf: Die aktuelle Inzidenz (rund 150) ist nicht einmal im 95%-Konfidenzintervall der Modellierung.“

Die gemessene Inzidenz in 95 Prozent der errechneten Fälle hätte zwischen ca. 220 und ca. 520 liegen müssen, tatsächlich stieg sie bislang nicht über 172.

Feldwisch-Drentrup weiter: „Die Lage ist trotzdem sehr ernst, keine Frage. Aber ich finde, dass man bei derartigen Hochrechnungen immer die Unsicherheiten mit kommunizieren muss – und man sollte sie nicht als Vorhersage bezeichnen, sondern eben als grobe Hochrechnung auf Basis der aktuellen Entwicklung“

Am 21. April 2021 wurde von Prof. Karagiannidis, wissenschaftlicher Leiter des DIVI-Intensivregisters folgendes Statement in einem Tweet veröffentlicht: „Aktuelle Lage: Die „natürlichen“ Kontaktbeschränkungen an Ostern, viele regionale Maßnahmen und die #Impfung haben das Wachstum der #Intensivbelegung (grün) abgebremst. Danke für das disziplinierte Verhalten!“

Tatsächlich zeigt sich nun, dass die Einschätzung des Virologe Hendrick Streeck aus Januar 2021 eher zutreffend war: „Im März, spätestens April gehen die Infektionszahlen nach unten – wie bei allen anderen Coronaviren auch.“ Streeck ging davon aus, dass es „über die Sommermonate nur noch wenige Fälle“ geben werde.

Die anlasslose Massentestungen mit den fehlerträchtigen Antigentests dürften die „Fallzahlen“ nun wieder in die Höhe treiben.

Hinter der Notbremse steckt nach alledem keine wissenschaftliche Evidenz.

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