Samstag, April 20, 2024
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Levée en masse: Über Massenimpfungen

Ein Beitrag von Michael Ley & Carl Vierboom, zuerst erschienen bei www.iqbildung.de

(1) Die Franzosen waren die ersten, die am Ende des 18. Jahrhunderts auf die Idee kamen, alle Staatsbürger zum Kriegsdienst zu verpflichten. „Levée en masse“ nannte der Konvent die Anordnung zur Massenaushebung, mit der man auf die drohende Invasion der europäischen Verbündeten reagieren und die komplette Bevölkerung für die Landesverteidigung mobilisieren wollte: die Männer als Soldaten, die Frauen als Hilfskräfte in den Hospitälern und die Kinder für die Anfertigung von Uniformen.

Die Massenaushebung führte zum Aufbau einer Kriegsmaschine, wie sie die Welt bis dahin nicht gesehen hatte. Sie begründete die militärischen Erfolge Frankreichs im Kampf mit seinen europäischen Nachbarn, aber darüber hinaus auch die Idee einer allgemeinen Wehrpflicht. Diese wurde im 19. Jahrhundert in allen anderen modernen Staaten eingeführt und verpflichtet die Bevölkerung dieser Staaten bis heute zur Beteiligung an den Aufgaben der Landesverteidigung. Seit der französischen Revolution ist das Kriegswesen nicht mehr Sache der Könige, sondern Angelegenheit des ganzen Volkes (vgl. Caiani 2010).

Die „levee en masse“, mit der die Franzosen angefangen haben, geht über die Fragen einer militärischen Mobilmachung weit hinaus. Sie gehört gewissermaßen zum Gründungsakt des bürgerlichen Staates, der die Aufgaben zur Regelung des Gemeinwesens in die Hände des Volkes zu legen versucht. Der moderne Staat, der sich im Namen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit konstituiert, versucht seine Bürger vor willkürlichen Eingriffen in ihre Freiheitsrechte zu schützen. Damit er diese Rechte garantieren kann, muss er den Menschen andererseits aber auch gewisse Opfer abverlangen, die wie im Fall der Wehrpflicht bis zum Tode gehen können.

(2) Im liberalen Staat gibt es nur wenige Bestimmungen, mit denen die bürgerlichen Rechte auf ähnlich weitreichende Weise eingeschränkt werden wie bei der Wehrpflicht. Zu den allgemeinen „Grundpflichten“ eines Staatsbürgers gehörten für lange Zeit nur noch die Steuerpflicht sowie die Schulpflicht. Die Wehrpflicht zur Sicherung des Territoriums, die Steuerpflicht zur Sicherung des Staatshaushaltes und die Schulpflicht zur Sicherung der jeweils herrschenden Gesellschaftsideologie: das sind die Eckpunkte, mit denen der moderne Staat seine eigene Existenz zu schützen versucht.

In unserer Zeit steht die Impfpflicht als weitere Bürgerpflicht im Raume. In juristischer Hinsicht existiert sie noch nicht, aber die staatsrechtliche Fixierung hat auch bei der Wehr- und bei der Schulpflicht einige Zeit gedauert. Was wir heute beobachten können, das ist in erster Linie eine ideologische Aufrüstung, mit der das Impfen zu einer staatstragenden Angelegenheit gemacht werden soll. Der Ethikrat spricht immerhin von einer „moralischen Impfpflicht“ und das kommt einer gesetzlichen Verpflichtung schon sehr nahe. Sämtliche Bürger werden dazu aufgerufen, sich für eine Sache „von nationaler Tragweite“ zu engagieren.

An anderen Stellen werden demgegenüber Überlegungen dazu angestellt, wie man die Impfverweigerer zu behandeln hätte. Die einen verlangen Einschränkungen beim Versicherungsschutz, die anderen wollen Ungeimpfte vom Theater- oder Kinobesuch ausschließen. Manche Fluglinien kündigen bereits an, dass demnächst nur noch Geimpfte transportiert werden sollen. Auch die Überlegungen des deutschen Ärztetages gehen in diese Richtung. Nach den Vorstellungen der Mediziner sollen Kinder und Jugendliche nur dann zur Schule gehen dürfen, wenn sie geimpft sind: Wer nicht impft, bleibt dumm.

Das alles ist nicht weit entfernt von der „levée en masse“, zu der schon der französische Konvent aufgerufen hatte. Heute droht die Invasion zwar nicht von außen, aber gegen die Infektion von innen soll die ganze Bevölkerung zusammenstehen. Für Schutz und Erhalt des Lebens darf kein Opfer zu groß sein. Wer sich diesem Opfer verweigert, muss damit rechnen, in die Ecke der Deserteure und Defätisten gestellt zu werden.

(3) Der Staat hat das Impfen nicht erst seit Corona zu einer hoheitlichen Angelegenheit gemacht. Nachdem das medizinische Prinzip des Impfens erkannt worden war, hatte der Staat ein Interesse daran, bestimmte Gruppen in besonderer Weise zu schützen. Als erstes war wieder einmal die Armee an der Reihe, deren Einsatzfähigkeit gesichert werden sollte, indem die Soldaten routinemäßig gegen Gelbfieber, Typhus oder Cholera geimpft wurden. In den meisten Armeen der Welt gehört das Impfen heutzutage wie die Ausstattung mit Sturmgewehren zur Grundausrüstung der Soldaten.

Im Innern des Staates wurde das Impfen als eine Möglichkeit entdeckt, die kurative Behandlung von Krankheiten durch präventive Maßnahmen zu ergänzen. Bereits im 19. Jahrhundert wurde das Impfen zu einem wichtigen Instrument einer Gesundheitspolitik, mit dem sich Verfügbarkeiten auch in die Zukunft hinein ausdehnen und überraschende oder unvorhergesehene Entwicklungen verhindern ließen (z.B. Lengwiler & Madarász 2010). Das Impfen versprach eine Perspektive, die Heimsuchung durch Epidemien und die Dezimierung großer Bevölkerungsteile einzudämmen oder sogar komplett zu verhindern. Der Kampf gegen Viren war immer auch mit der Verheißung verbunden, bestimmte, für die Menschheit gefährliche Krankheiten endgültig „auszurotten“.

Die staatliche Gesundheitspolitik orientierte sich dabei an dem Modell einer stabilen und in sich gefestigten Gesellschaft, in der extreme Abweichungen oder Krisen nach Möglichkeit verhindert werden sollten. Die Gesundheit der Bevölkerung wurde immer auch als Metapher für die „Gesundheit“ des Gemeinwesens verstanden und konnte deshalb ideologisch aufgeladen oder für Zwecke der Machtpolitik verwendet werden. Die nationalen Impfquoten waren in der Nachkriegszeit beispielsweise ein beliebtes Mittel im Systemvergleich der beiden deutschen Staaten (Thiessen 2013).

Sobald der Staat das Impfen in die Hand nimmt, geht es nicht mehr nur um das Impfen selbst, um ein bestimmtes Virus oder um die Bekämpfung einer speziellen Krankheit. Sowohl der Vorgang des Impfens als auch dessen Begründungen und Rechtfertigungen stehen immer im Zusammenhang mit bestimmten „Metaphern“ (Sontag 1977), die der ideologischen Aus- und Aufrüstung der Gesellschaft dienen. Das Impfen selbst ist ein medizinischer Eingriff; dieser Eingriff gewinnt gesellschaftliche Bedeutung jedoch erst im Zusammenhang mit Vorgängen der Massenbildung, die auf eine möglichst umfassende Vereinheitlichung der verschiedenen Teilgesellschaften abzielen.

(4) Zumindest in den westlichen Staaten war das Impfen bislang allerdings immer nur auf einzelne Gruppen der Bevölkerung beschränkt. Für die Kinder sollte eine Grundimmunisierung gegen die schlimmsten Krankheiten vorgenommen werden; am anderen Ende der Lebensspanne sollten die Alten die Möglichkeit erhalten, sich regelmäßig gegen Grippeviren impfen zu lassen; dazwischen gab es Impfungen für besondere Anlässe wie etwa den Impfschutz bei Auslandsreisen; schließlich kam die Impfung bestimmter Berufsgruppen wie die der Soldaten oder des medizinisches Personals hinzu.

Eine Massenimpfung der gesamten Bevölkerung, wie sie derzeit in Deutschland und vielen anderen Staaten durchgeführt wird, hat es in der Geschichte der Menschheit noch nie gegeben. Die Corona-Impfungen sind, ähnlich wie schon die PCR-Tests, die größte medizinische Operation, die jemals an Menschen durchgeführt wurde. Mit den „Impfzentren“, die in den Kommunen, Städten, Ländern und Staaten der westlichen Welt aufgebaut wurden, ist ein Laboratorium von universalen Ausmaßen entstanden. Vor Beginn der Krise hätte man jedes Vorhaben, das in nur annähernd vergleichbarer Größenordnung durchgeführt werden sollte, in den Bereich der science fiction verwiesen.

Das Umfassende eines solchen Laboratoriums verweist aber auch auf den umfassenden Anspruch des Staates. Die Massenimpfungen lassen erkennen, dass im Hintergrund auch des liberalen, aufgeklärten Staates die Fiktion einer totalen Verfügbarkeit steht. Die staatlich verordnete Impfkampagne folgt der Utopie einer Wirklichkeit, die möglichst perfekt und ohne Störungen funktionieren soll, die man völlig in der Hand hat und die ohne Reste aufgehen soll. Das ist die Utopie einer „schönen, heilen Welt“, wie sie von Orwell oder Huxley beschrieben wurde.

(5) Wie alle anderen Massenaushebungen wird auch die gegenwärtige Impfkampagne in erster Linie als staatliche Verwaltungsaufgabe geplant und organisiert. Der Staat stellt die Finanzen, das Personal, die Verordnungen und die Logistik zur Verfügung. Er kauft, beschafft, lagert und verteilt die Impfstoffe, instruiert die Verwaltungen und Behörden und ist mit Amtsärzten, Mitarbeitern der Gesundheitsämter sowie mit ausgewähltem Personal der Bundeswehr bis in die entferntesten Winkel der Provinz hinein präsent. Im ersten halben Jahr der Kampagne waren private Arztpraxen ausdrücklich ausgeschlossen: Jede Form des Privatisierens oder „Fraternisierens“ sollte von Anfang an verhindert werden.

Der Staat ist aber auch präsent mit den Anschreiben der Impfkandidaten, mit dem Aufruf nach Jahrgängen oder „vulnerablen Gruppen“, mit den vielen Formularen, die noch vor dem eigentlichen Impftermin durchgelesen oder komplettiert werden müssen. Der Staat nimmt eine Musterung der gesamten Bevölkerung vor. Er teilt sie ein in Altersgruppen, weist ihnen bestimmte Termine zu, verlangt Ausweise und Erklärungen. Wie bei der biblischen Volkszählung wird jeder Staatsbürger aufgerufen, zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort zu erscheinen.

Die Impfzentren selbst sind das Musterbeispiel einer perfekt eingerichteten, staatlich kontrollierten und subventionierten Abfertigungsmaschine. In Deutschland werden inzwischen an jedem Tag mehr als eine Million Impfdosen verabreicht. Das sind, wie eine große Tageszeitung ausgerechnet hat, acht Impfungen in jeder Sekunde. Wenn man bedenkt, dass jeder Deutsche mindestens zweimal geimpft werden muss, bevor ein vollständiger Infektionsschutz erreicht ist, kommt man auf die gewaltige Anzahl von ca. 166 Millionen Impfungen.

Eine solche Kampagne kann nur funktionieren, wenn die Impfzentren möglichst ohne Aufenthalt und Verzögerungen arbeiten. Von den Hinweisschildern auf die Impfzentren, über die Parkplätze, die Leitsysteme im Innern der Zentren und das Verabreichen der Impfstoffe: jeder einzelne Vorgang muss genau geplant und mit allen anderen Teilvorgängen abgestimmt werden; nichts darf dem Zufall überlassen bleiben oder aus dem vorbestimmten Takt heraustreten.

Die Impfzentren erinnern daher auch eher an die Abfertigungshallen in Flughäfen oder an die Verteilzentren von Verpackungs- und Versandunternehmen. Es sind riesige Ansaug-, Registrier- und Beförderungsanlagen, in denen die Menschen nach der Ankunft auf vorbestimmte Plätze gesetzt, nach einem vorgegebenen Takt schrittweise weiter gerückt, durch ein Labyrinth von Gängen und Fluren geschleust und schließlich vor die Tür der Impfkabine platziert werden, wo „es“ dann passieren soll.

(6) Der Apparat hat nicht nur den Charakter eines nüchternen, funktionalen, klinischen Unternehmens, sondern er ist auch ein weitgehend unbewusster Betrieb. Im Grunde wissen die Menschen nicht viel darüber, was mit ihnen in den Impfzentren geschieht. Weil der Ablauf in viele kleine Einzelschritte zerlegt ist, können sie den Zusammenhang des Ganzen nur schwer erfassen. Von Anfang an werden sie dazu gezwungen, den Anweisungen des Personals oder der Leitsysteme zu folgen und die Schritte mitzumachen, die das System für sie bereitstellt.

Für die Besprechung persönlicher Befindlichkeiten oder Erfahrungen ist in diesem System kein Platz. In manchen Impfzentren existiert zwar die Möglichkeit, sich mit speziell für diesen Zweck abgestellten Ärzten über Risiken und Nebenwirkungen der Impfung zu beraten. Wenn man von dieser Möglichkeit Gebrauch macht, verpasst man aber den Zugang zur „fast lane“, die auf direktem Wege zum Impfarzt führt. Die meisten verzichten auf die ärztliche Konsultation und ihr Recht, Fragen zu stellen.

Auch die vielen Vorschriften und Regularien tragen zum Eindruck eines fremdbestimmten Geschehens bei. Wenn man die erste Etappe der Sortieranlage hinter sich gebracht hat und vor den Schaltern steht, an denen freundliche junge Damen die mitgebrachten Papiere auf Vollständigkeit überprüfen, gerät man in den Zwang, auch die eigene „Vollständigkeit“ bestätigen zu müssen. Eigene Ansprüche darf man dagegen ausdrücklich nicht stellen. Mit den Papieren unterschreibt man eine Erklärung, in der man dem operativen Eingriff in den eigenen Körper zustimmt, die bedingte Zulassung des Impfstoffes anerkennt und auf sämtliche Haftungs- und Gewährleistungsansprüche verzichtet.

Der Ablauf des Impfens bringt die Menschen in eine Position, in der sie eigene Mitsprache- und Beteiligungsrechte zumindest für einen gewissen Zeitraum aufgeben müssen. Man muss sich einem Geschehen überlassen, das von anderen verantwortet und gesteuert wird. Das kann Gefühle eines Ausgeliefert- oder Ausgesetzt-Seins bestärken, das kann aber auch regressive Momente umfassen: als ob man die erwachsene Kontrolle über sein Leben aufzugeben hätte. Das Wort von den „Impflingen“ bestätigt diesen Eindruck. Es klingt wie Lehrling, Prüfling, Frischling, Winzling und weist auf jeden Fall auf eine Form der Verkleinerung hin. Das Impfen symbolisiert die Unterwerfung unter eine Realität, welche die eigenen Wirkungsmöglichkeiten übersteigt.

(7) Der Vorgang des Impfens selbst bestätigt diesen Eindruck. Obwohl die Injektion Ziel und Höhepunkt der ganzen Veranstaltung darstellt, werden darum nur wenige Worte gemacht. Das Ansetzen und Einführen der Nadel wird offiziell als „kleiner Pieks“ angekündigt, um den möglichst kein Aufhebens gemacht werden soll. Man setzt sich dem kurzen Eingriff aus und dann ist die Angelegenheit auch schon vorüber: Impfstelle abwischen, Pflaster drauf und fertig.

Tatsächlich ist die Sache aber wesentlich komplizierter. Die Situation in der Impfkabine ist eine Fortsetzung der Situation, die schon bei der Aufnahme der Personalien angeklungen war. Der eigene körperliche Status wird aufgenommen und kontrolliert. Man hat Kleidungsstücke abgelegt und Hemd oder Bluse aufgerollt. Man setzt sich den Blicken eines fremden Menschen aus und legt sich die Fragen vor, die man sich auch bei anderen ärztlichen Untersuchungen vorlegt: Hat man alles richtig gemacht? Ist man selbst richtig? Zu dick, zu dünn, zu blass, zu schwach? Man muss ein Bild preisgeben, das man von sich hatte und das unter dem fremden Blick des Arztes ins Wanken gerät.

Einen Augenblick lang fragt man sich, ob das alles wirklich sein muss und man nicht doch lieber auf die Impfung verzichten sollte. Für ein Weglaufen ist es aber zu spät. Die Impfstelle wird bereits desinfiziert und die Spritze schwebt über dem Oberarm. Der Arzt zieht das weiche Haut- und Muskelgewebe auseinander und setzt die Spritze an. Die Nadel dringt unter die Haut und es erfolgt die Injektion. Man spürt die Nadel, aber nicht den Inhalt der Spritze. Ein kaltes, fremdes Material hat sich in einen weichen, bloßen und verletzlichen Teil des eigenen Körpers gebohrt.

(8) In der Punktion des Oberarms kulminiert der gesamte Vorgang des Impfens. Das lange Warten schon im Vorfeld des Impftermins, die Beschaffung der Papiere, die Fahrt zum Impfzentrum, das Durchgeschleust-Werden durch die Sortiermaschine, die amtlichen Prüfungen und die ärztliche Examination: das alles erfährt eine Verdichtung und Zuspitzung durch die Nadel, die in den eigenen Körper eindringt. Die Nadel ist gleichsam die Düse, durch die ein ganzer Seelen-Betrieb hindurch muss.

Das Eindringen der Nadel ist aber auch ein Akt der Bemächtigung, bei dem etwas Eigenes dem Einfluss von etwas Fremden unterworfen wird. Auf der einen Seite steht das weiche, organische, lebendige Gewebe des eigenen Körpers, auf der anderen Seite die metallische Spitze der Injektionsspritze, deren genauer Inhalt den meisten „Impflingen“ in der Regel völlig unbekannt sein dürfte. Die Vorgang der Impfung lässt beide Seiten jedoch nicht nebeneinander stehen, sondern richtet die eine Seite so zu, dass die andere Seite darin eindringen kann. Die Impfung inszeniert gleichsam im Zeitraffer die Unterwerfung einer lebendigen Substanz unter die rationale Macht von Medizin und Technik.

Im Vorgang des Impfens erfährt daher auch der Anspruch der Gesellschaft und des Staates eine besondere Zuspitzung. Der Staat macht den Menschen klar, dass sie an einer bestimmten Stelle keine Ansprüche mehr zu stellen haben, sondern allein den Direktiven des Staates und seiner Vollzugsorgane Folge leisten müssen. Der Staat sagt den Menschen gleichsam durch die Spritze: Hört bitte auf, Fragen zu stellen und folgt meinen Anweisungen. Ich sorge für euch, denn ich weiß, was gut für euch ist.

Die Menschen, die sich auf das Impfen einlassen, folgen diesem Angebot des Staates. Sie unterschreiben gleichsam einen Vertrag, in dem sie dem Staat das Recht zugestehen, zumindest an dieser besonderen Stelle Zugriff auf ihren Körper und ihr Leben zu nehmen. Das Impfen ist eine symbolische Abtretungs- und Verzichtserklärung, mit der wir dem Staat bestätigen, dass er uns und unseren Körper für sein eigenes Funktionieren in den Dienst nehmen kann.

(9) Den meisten Menschen sind die Bedingungen dieses Vertrages natürlich nicht bewusst. Sie sind Teil der Impfmaschine geworden und übernehmen die Argumente der staatlichen Impfpropaganda: dass das Impfen der Bekämpfung eines gefährlichen Virus dient; dass jeder Bürger Verantwortung für das Ganze zu tragen hat; dass der Nation im Anschluss an das Impfen alle Freiheiten zurückgegeben werden.

Vielleicht stimmt das alles und vielleicht wird, wenn denn eine Mehrzahl der Bundesbürger geimpft sein wird, wieder alles so sein, wie es einmal war. Vielleicht kommt es aber auch ganz anders. Die „levée en masse“ war eigentlich noch nie der Beginn einer großen Freiheit. Nach der Mobilmachung kommt normalerweise der Einzug in die Kaserne, es kommen die Appelle und das Exerzieren, der Drill und das Marschieren.

Wie das im Fall von Corona aussieht, lässt sich schon jetzt erahnen. Nach dem Impfen werden wir lernen müssen, mit Impfausweisen zurechtzukommen und den elektronischen Zugang zu den Einrichtungen des gesellschaftlichen Lebens zu bewältigen. Wir werden Apps auf unsere Handys herunterladen und uns daran gewöhnen müssen, bei jedem Schul-, Restaurant- oder Museumsbesuch gescannt, überprüft und im Hinblick auf unseren gesellschaftlichen Status abgefragt und bewertet zu werden.

Es ist gut möglich, dass das Impfen den Eintritt in die „Kontrollgesellschaft“ einleitet, wie sie in der Vergangenheit z.B. von Deleuze (1992) oder Bröckling (2007) prognostiziert wurde. Unter dieser Option öffnet das Impfen keine Türen in die Freiheit, sondern es schneidet uns von früheren Freiheiten ab. Das Impfen ist das Tor, durch das die Menschen aus der ehemaligen „Multioptionsgesellschaft“ (Gross 1994) herausgeführt werden und das danach vielleicht für sehr lange Zeit verschlossen bleiben wird.

Bröckling, Ulrich (2007): Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Caiani, Ambrogio A. (2010): Levée en Masse. Institut für Europäische Geschichte Online (Hrsg.). URL: http://www.ieg-ego.eu/caiania-2010-de URN:urn:nbn:de:0159-20100921163.

Deleuze, Gilles (1990): Postskriptum über die Kontrollgesellschaften. In: Unterhandlungen 1972–1990. Frankfurt/Main (1993): Suhrkamp, S. 254 – 262.

Gross, Peter (1994): Die Multioptionsgesellschaft. Frankfurt: Suhrkamp.

Lengwiler, Martin; Madarász, Jeannette (Hrsg.) (2010): Das präventive Selbst. Eine Kulturgeschichte moderner Gesundheitspolitik. Bielefeld: Transcript.

Sontag, Susan (1977): Krankheit als Metapher. Frankfurt: Fischer

Thiessen, Malte (2013): Vorsorge als Ordnung des Sozialen: Impfen in der Bundesrepublik und der DDR. In: Zeithistorische Forschungen, Online-Ausgabe, 10 (2013), H. 3. URL: https://zeithistorische-forschungen.de/3-2013/4731.

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