Eine Betrachtung von Viviane Fischer
Ich weiss nicht, warum mir ausgerechnet dieses Weihnachten die Erzählung „Nicht nur zur Weihnachtszeit“ von Heinrich Böll wieder eingefallen ist. Es ist eine Erzählung, die der Autor während der Zusammenkunft der Gruppe 47 auf Schloss Berlepsch Anfang November 1952 verlas. Sie gilt als erste Satire des Schriftstellers und veranlasste Pfarrer Hans-Werner von Meyenn, Böll die „Verunglimpfung des deutschen Gemüts“ vorzuwerfen.
Was die Erzählung in jedem Fall ist: sie ist schrill, mehr als schrill.
Die Geschichte handelt von Tante Milla, die sich nach dem Weihnachtsfest 1947 nicht mehr von ihrem Weihnachtsbaum trennen möchte und allen Versuchen ihrer Anverwandten, den Baum abzuschmücken und aus dem Wohnzimmer zu entfernen, mit einem Schreikrampf begegnet. Während der Kriegsjahre musste Tante Milla ihren Baum und seinen prächtigen Schmuck schmerzlich entbehren, aber nun, da alles wieder gut ist, will sie die Feierlichkeit, den traditionsreichen Lichterglanz, der wie aus einer anderen Welt zu stammen scheint, nicht wieder missen. Als zu Rate gezogene Ärzte keine Abhilfe wissen, verschreibt Onkel Franz seiner Gattin kurzerhand eine Tannenbaumtherapie. Tante Milla soll ab sofort jeden Tag ihr Weihnachtsfest haben, solange bis es ihr zu den Ohren herauskommt.
Jeden Tag findet sich die Familie nun am geschmückten Baum ein und feiert unter dem gestrengen Auge eines „Frieden, Frieden, Frieden“ flüsternden Weihnachtsengels das Fest aller Feste. Die Hoffnung, dass sich die Sache für Tante Milla nach kurzer Zeit totgelaufen haben möge, ist allerdings kurzlebig. Insgesamt zwei Jahre zieht sich die Dauerweihnacht hin mit den bemerkenswertesten Weiterungen für die psychische Verfaßtheit der Festtagsgruppe. Schon nach kurzer Zeit bilden erste Familienmitglieder ein Spekulatiustrauma aus. Tobsuchtsanfälle treten auf, kreuzbrave Familienmitglieder entwickeln sich zu eifrigen Seitenspringern, Familienteile entschließen sich zum Auswandern nach Äquatorial-Afrika und jemand konvertiert vom Katholizismus zum Kommunismus.
Immer mehr Verwandte der im Glanz der Weihnachtskerzen glückselig strahlenden Tante Milla ziehen die psychische Notbremse und lassen sich von arbeitslosen Schauspielern vertreten. Die Kinder, denen man die tagtägliche Dosis Weihnachten irgendwann nicht mehr zumuten kann, sind nach einigen Wochen durch Wachspuppen ersetzt. Ganz zuletzt wird Onkel Franz auch noch lebensmüde, und ein Vetter des Erzählers, Boxer von Beruf, geht als Laienbruder in ein Kloster. Von deutscher Gemütlichkeit und Heimeligkeit bleibt nicht viel übrig in der Dauerweihnacht des Heinrich Böll.
Warum ist mir diese Geschichte ausgerechnet dieses Weihnachten in den Sinn gekommen? Wir befinden uns nun in Jahr drei der Krisenbewältigung und da sieht man doch bei einigen der Protagonisten der Widerstands- und Aufklärungsszene deutliche Anzeichen von Lagerkoller und Aufgeriebensein.
Einige Proponenten haben sich ins Ausland begeben. Sie haben eine Reise „wegwohin“ angetreten, eine Formulierung, die der DDR-Schriftsteller Uwe Johnson in seinem wunderschönen Erstlingswerk Ingrid Babendererde für das „Rübermachen“ in den Westen gewählt hatte. Prominente Beispiele im Exil in Tansania oder auf einer Ranch in der Nähe von Reno und andernorts gibt es zur Genüge. Ich muss bei solchen Ortsveränderungen immer an den frappierenden Stilwechsel des Malers George Grosz denken, der in Deutschland zu Zeiten der Weimarer Republik die beeindruckendsten politischen Bilder gemalt hat, sich im Exil in den USA dann aber vor allem noch in Stilleben und Aktmalerei künstlerisch ausdrücken konnte.
Ich selbst brauche für den politischen „Kampf“ die Nähe zu den Verhältnissen in meinem vertrauten Umfeld, meiner sogenannten „Heimat“ oder was ist heutzutage die politisch korrekte Bezeichnung für die Freude an der wohlvertrauten Natur, den altbekannten Orten, der geliebten Sprache, den guten Freunden? Weit weg von Deutschland unter Palmen, in Urlaubsstimmung und mit Blick auf einen unendlichen Horizont verplätschern sich für mich die Gedanken, die auf die Erneuerung der Bundesrepublik Deutschland an ihren eigenen Idealen wie z.B. Demokratie und Rechtsstaatlichkeit und Menschenwürde gerichtet sind. Ich bewundere diejenigen, denen das nicht so geht. Für mich wäre die Böllsche Fluchtmöglichkeit Äquatorial-Afrika auf jeden Fall keine Option.
Andere Widerstands-Player befinden sich mittlerweile in der inneren Immigration. Sie haben das Gefühl, dass der „Gegner“ übermächtig ist und die Würfel im Spiel um das Angstdatum 2030 schon gefallen sind. Wer so etwas denkt, der hat schon verloren, nicht nur im Aussen sondern auch oder vielmehr im Innen.
Wieder andere sind vom Kurs abgekommen und schlingern haltlos hin und her. Sie verlieren sich in kleinen Fluchten, Tagträumereien, kleinen und großen (Selbst)belügereien, Übersprungshandlungen. Sie schwanken zwischen Rückzug in die Welt der Musik und Weiterkämpfen. Das kann nichts werden, so nimmt man sich nur selbst aus dem Spiel. Nur wer jetzt klar – auch innerlich – Kurs hält, kann etwas erreichen. Der moralische Kompass muss einen da leiten. Es geht um Nichtwegschauen, um aufrichtiges Fragen, es geht um Redlichkeit oder zumindest Redlich sein wollen. Es geht nicht darum, dass man nicht fehlbar sein könnte, jeder Mensch ist fehlbar. Entscheidend ist die Fähigkeit zur Fehlerkorrektur und die Aufrichtigkeit.
Mit Taschenspielertricks kommt man nicht mehr durch, damit kann man nichts mehr werden in der neuen Welt. Da wird man sich unversehens ganz kleine Brötchen backen sehen, kleinlich, peinlich.
Volle Kraft voraus und mit an Bord dürfen, damit man selbst nicht untergeht, nur die, denen man wirklich trauen kann, die zu denen, wie Wolfgang Wodarg das immer so schön sagt, berechtigtes Vertrauen bestehen darf. Gehaltene Ehrenwörter sind, was zählt. Die Währung, das ist ganz klar, ist jetzt das Vertrauen.
Und was unternehmen wir gegen die Spielchen einer Tante Milla und all derer die drei Jahre lang die Massnahmenkrise betrieben haben? Wir tun ihr sicher nicht mehr länger den Gefallen, brav am Weihnachtsbaum zu singen, uns durch Schauspieler ersetzen zu lassen oder uns in den Wahnsinn zu retten.
Das einzige was hilft, ist, den Tannenbaum mitsamt seinem Tand entschlossen zu packen und aus dem Fenster zu schmeissen, Tante Milla klipp und klar zu sagen, dass man auf ihre Fake-Weihnacht keinen Bock mehr hat und dann seiner Wege zu gehen, zusammen mit anderen, die auf den ganzen Schwachsinn auch keine Lust haben. „I do not consent.“ Und dann kann die Tante Milla gerne auf der Planke ohne Gegengewicht in den Abgrund gleiten. Wenn sie schlau ist, erkennt sie aber, dass sie auf der schwanken Seite der Planke nicht mehr lange sicher stehen wird und schliesst sich den Aussteigern an. Vermutlich ist übrigens der Lagerkoller bei Tante Milla und ihren Mannen inzwischen ähnlich groß wie auf unserer Seite. Keinen Bock auf gar nichts mehr.
Was man für einen Moment aushalten müssen wird, ist, dass die Tante weint und klagt zum Gotterbarm, aber mal ehrlich, die Tante hat uns selbst ganz schön weinen und klagen lassen in den letzten drei Jahren, da darf sie jetzt auch mal allein im Regen stehen in ihrem Unbehagen. Oder sie kann sich gehörig dafür entschuldigen, dass sie einen jahrelang gequält hat und dafür tätige Reue leisten. Vielleicht ist dann ja auch für Tante Milla Platz da draussen im Café oder am Lagerfeuer oder wo immer einen die Freiheit grade so hinverschlägt.