Freitag, November 8, 2024
LebenEine Reise wegwohin

Eine Reise wegwohin

Eine Betrachtung von Dr. Matthias Burchardt, Anthropologe und Bildungsphilosoph

Die gegenwärtige politische Lage schreit nach scharfen Analysen in klaren Worten. Sie verlangt nach entschlossenem Engagement und mutigen Taten. Wenig Raum gibt es scheinbar für die verzweifelte Klage über unsere Verluste, kaum Zeit für den leisen Schmerz von Trauer und Melancholie. Und so beschweigen wir die vielen kleinen und großen Abschiede des letzten Jahres, so als würde der Verlust erst dadurch besiegelt, dass wir ihn uns eingestehen. Wir haben den Kontakt zu Freunden und Verwandten verloren. Grundrechte sind uns entzogen. Unsere Lebensweise ist uns geraubt. All dies sind biographische Ereignisse, denen wir uns stellen müssen. Es zeichnet sich ab, dass wir zu unserem alten Leben nicht zurückkehren werden und ein neues Leben ist noch nicht in Sicht. Mitunter erleben wir die Trennung als heilsame Loslösung, vielfach aber überwiegt der Schmerz, dass uns gegen unseren Willen etwas Wesentliches entrissen wurde. Es macht nämlich einen großen Unterschied, ob wir uns aus freien Stücken von einem Teil alten Lebens abwenden oder ob es uns entrissen wird. Im ersten Fall genießen wir die Freiheit eines Neuanfangs wie eine Neugeburt. Abschied wirkt dann wie eine Ent-Bindung. Im zweiten Fall spüren wir im Abschiedsschmerz das Entgleiten, das Aufklaffen einer Lücke als bittersüßen Vorgeschmack auf den unausweichlichen Tod. Dann leiden wir an dem Unvermögen, aus eigener Kraft erhalten zu können, was uns so kostbar war. Wenn Menschen ihren Job verlieren, Inhaber ihre Läden auflösen müssen, Studenten ihre Wohnung nicht mehr halten können, wenn die Theaterbühnen verwaisen, die Konzertsäle und Kirchen leerstehen, die Karnevalszüge wegfallen usf., bedeutet dies auch den Verlust der eigenen oder gemeinsamen Identität, die sich als Geschichte in Dinge, Orte, Bräuche, Rituale und Praktiken eingeschrieben hat. Scheiden tut weh, denn das Abgeschiedene hat einmal zu uns gehört und die Beziehung zu ihm dauert weiter fort, sei es im Bewahren eines guten Andenkens, in der Hoffnung auf ein baldiges Wiedersehen, im erleichternden Vergessen oder angestrengten Verdrängen. 

Die Krise ist eine Scheide-Zeit (gr. KRINEIN = trennen, unter-scheiden). Im Verlust zeigt sich, was uns bloß belastet hat und was uns wirklich wertvoll ist. Der Schmerz bringt uns zur Einsicht, so wie der Fisch das Wasser erst versteht, wenn er an Land liegt. Allen Phantasmen der technokratischen Weltenlenker zum Trotz aber gilt: Geschichte ist prinzipiell offen und unsere Freiheit bleibt unberechenbar. Holen wir uns gemeinsam zurück, was uns geraubt wurde, lassen wir hinter uns, was uns gefesselt hat!  

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