Ein Team hochrangiger Wissenschaftler um Prof. Dr. Matthias Schrappe (Forschungsschwerpunkte: Patientensicherheit und Qualitätsmanagement) und den Medizinstatistiker Prof. Gerd Antes möchte mit der neugegründeten Plattform www.covid-strategie.de eine neue, evidenzbasierte, auf die Minimierung von Kollateralschäden zielende Pandemiestrategie diskutierten.
Die Gruppe stellt fest: „Besprechungen nur mit einzelnen Wissenschaftlern aus Spezialdisziplinen genügen nicht, ergebnissoffen Präventions- und Kontrolloptionen zu erarbeiten und ihre Vor- und Nachteile abzuwägen. Es existiert zu wenig oder kein Platz für den wissenschaftlichen Diskurs im Vorfeld der Entscheidungsfindung. Wesentliche Bereiche der Gesellschaft sind nicht vertreten. Es herrscht der Eindruck, dass Positionen, die nicht zum fest geprägten Standpunkt der Entscheidungsträger passen, nicht berücksichtigt werden auch wenn sie die Entscheidungsfindung schärfen und die Suche nach der besten Lösung befördern können. Ein offener Diskurs mit allen wesentlichen Fachbereichen ist aber entscheidend zur Überwindung der Krise.“
Und weiter heisst es auf der Webseite der Wissenschaftler: „Ein unabhängiges Expertengremium fehlt, das Risikoeinschätzungen für die Bundesregierung oder -institute vornimmt, z.B. der SARS-CoV-2 Varianten, Kita/Schulen. Deren Aufgabe muss es sein, Empfehlungen nach einem strukturierten Prozesse der Risikoabschätzung für die Politik zu geben.
Konkret für die Entwicklung der Stufenpläne bedeutet das jetzt, dringend den Beitrag von bestimmten Lebensbereichen für Infektionen von Risikopersonen und in stationären Einrichtungen zu evaluieren. Priorität haben hier: Kitas, Grundschulen und der Einzelhandel. Einzelmeinungen, derzeit von einzelnen Experten vorgetragen, erfüllen nicht annähernd die Anforderungen an eine strukturierte Risikoregulierung und genügen nicht, um die breite Wissenskompetenz, die Meinungsvielfalt und die Komplexität der Risikoregulierung zu COVID-19 abzubilden.“
Prof. Schrappe und Kollegen hatten immer wieder mit Strategiepapieren kritisch zur Pandemiebekämpfung Stellung bezogen. Gegenüber dem ZDF hatte Prof. Schrappe im November 2020 geäußert, dass die RKI-Zahlen mit Blick auf die Erarbeitung einer seriösen Strategie nichts wert seien: „Wir brauchen Zahlen. Wir sind im Bereich der Mutmaßungen. Es werden Grundrechte eingeschränkt, ohne dass wir eigentlich genau verwertbare Zahlen haben, und ich halte das als Wissenschaftler aber, ich sage es offen, auch als Bürger, für ein Unding, dass wir ohne eine feste Zahlenbasis zu solchen Einschränkungen schreiten, und vor allen Dingen, da es probate Methoden, die überall bekannt sind, gibt, die jeder, der sich epidemiologisch und infektiologisch betätigt hat, kennt, die zum Standardrepertoire gehören, und da ist unsere Autorengruppe nicht ohne Grund hinterher, das immer wieder einzufordern”
Die Gruppe fordert nun die Erarbeitung eines Stufenplanes. Dieser soll sich an nachstehenden Kriterien messen lassen:
- Ein elastischer, transparenter Stufenplan wird benötigt, der Deutschland ohne stetig neue Grundsatzdiskussionen bis zum Pandemieende bringt, da sich die Situation durch die Saison, die Populationsbewegungen, neue Varianten und den sich verändernden Bekämpfungserfolg sehr dynamisch bewegt (Abb.1.). Er soll auch die Positivagenda beinhalten gegen die Pandemiemüdigkeit nach einem Jahr stolpern von Lockdown zu Lockdown.
- Die entscheidenden Erfolgskriterien zur Abbildung der Pandemiesituation müssen dringend festgelegt werden: R-Wert-Trend, risikogruppenspezifische Inzidenzen, Belastung Gesundheitssystem, Belegung Intensivstationen, Sterbefälle. Weitere Indices wären vorstellbar. Zur gesundheitlichen und epidemiologischen Bewertung der Pandemiestufen ist die mittlere 7-Tage Melderate allein nicht geeignet.
- Die Maßnahmen der Pandemiepläne müssen in allen Stufen durchhaltbar und tragfähig für die Gesellschaft sein. Die Politik muss daher einen Prozess des wissenschaftlichen und politischen Diskurses darüber initiieren, welcher Zielkorridor/welche Pandemiestufe durchhaltbar angestrebt werden soll. Die 50er mittlere 7-Tage Melderate ist z.B. für stationäre Einrichtungen völlig ungeeignet und ist für die Gesamtbevölkerung im Winter nur unter größten Anstrengungen zu erreichen und kann danach nur durch weitere harte Maßnahmen gehalten werden. Im Sommer können wiederum niedrigere Pandemiestufen angestrebt werden.
- Interdisziplinäre Arbeitsgruppen legen die Eskalationsstufen der Maßnahmen in den einzelnen Lebensbereichen fest. Beispiel für den Einzelhandel: keine Einschränkungen, Öffnung mit Hygienekonzepten, Schließung.“
Hinsichtlich der Öffnung der Kita und Grundschulen macht sich die Arbeitsgruppe um Prof. Schrappe die Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie (DGPI) und der Deutschen Gesellschaft für Krankenhaushygiene (DGKH) zu eigen, die sie wie folgt zusammenfasst:
„Die Deutsche Gesellschaft für Krankenhaushygiene (DGKH) und die Deutsche Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie (DGPI) haben in der Vergangenheit in mehreren Stellungnahmen die grundlegenden Erkenntnisse zur Rolle der Kindertagesstätten und Schulen in der COVID-19-Pandemie zusammengetragen und aktualisiert.
Die von DGKH und DGPI vertretenen Positionen stehen nahezu deckungsgleich im Einklang mit den Erklärungen der wichtigsten internationalen Institutionen wie WHO, ECDC und CDC (1, 2, 3).
- Kinder in Gemeinschaftseinrichtungen nehmen am SARS-CoV-2-Infektionsgeschehen teil, sind aber selbst keine Treiber der Pandemie. Epidemiologisch folgen die Infektionen bei Kindern dem Infektionsgeschehen bei Erwachsenen, sie gehen ihm nicht voraus.
- Die Kollateralschäden durch Schließung von Kitas und Schulen sind in der Vergangenheit in ihrer weitreichenden Dimension zu wenig berücksichtigt worden.
- Schulen und KiTas sind für Kinder und Jugendliche systemrelevant. Jedwede Einschränkung der Grundrechte von Kindern und Jugendlichen, die ihnen fremdnützig auferlegt wird, bedarf einer strengen ethischen Abwägung und wissenschaftlich konkret belegbaren Rechtfertigung.
- Die Effektivität von Kita- und Schulschließungen zur Senkung von mit SARS-CoV-2 assoziierten Todesfällen in den Risikogruppen der Alten und Pflegebedürftigen ist in der Literatur nicht belegbar.
- Bezüglich der Neuen Virusvarianten (VOC) liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass die vorgeschlagenen Schutzkonzepte für Schule und KiTa grundlegend geändert werden müssen. Die AHA+L-Regeln gelten weiterhin uneingeschränkt und sind effektiv.
- Die derzeit benutzte 7-Tage-Inzidenz der gemeldeten Neuinfektionszahlen ist als Steuerungsmechanismus untauglich. Ein neuer Index muss transparent und belastbar politische Entscheidungen begründen können; in diesen Index eingehen müssen Daten der Überlastung des Gesundheitssystems mit Nennung von Zahlen zur Hospitalisierung, Intensivbettenbelegung und zu Todesfällen.
- Die Position des Deutschen Ethikrates (4), der die Rücknahme der die Freiheitsrechte einschränkenden Schutzmassnahmen an eben diese Parameter und nicht an die Zahl der Infektionsfälle (7-Tage-Inzidenz) einfordert, wird nachdrücklich unterstützt.“