Der Senat für Familiensachen am Oberlandesgericht Karlsruhe hat einen Beschluss (AZ 20 WF 70/21) gefaßt, der aufzeigt, dass der Rechtsbeugungsvorwurf gegenüber dem Weimarer Familienrichter Christian Dettmar ohne Rechtsgrundlage erhoben worden ist. Das OLG Karlsruhe hat mitgeteilt, dass das Familiengericht bei einer Anregung gem. § 1666 BGB verpflichtet ist, nach pflichtgemässem Ermessen Vorermittlungen einzuleiten. Es kann die Prüfung, ob eine Kindeswohlgefährdung vorliegt, nicht einfach auf das Verwaltungsgericht verlagern.
Der Beschluss des OLG Karlsruhe erging aufgrund der Beschwerde einer Mutter, die in einer Pforzheimer Schule wegen der schulinternen Anordnung von Corona-Massnahmen das körperliche, seelische und geistige Wohl ihrer Kinder gefährdet sah.
Das Familiengericht in Pforzheim hatte das Verfahren an das Verwaltungsgericht verwiesen: Die Mutter begehre die Ausserkraftsetzung schulischer Schutzanordnungen und die Überprüfung der den Anordnungen zugrundeliegenden Rechtsverordnungen. Zuständig sei hierfür das Verwaltungsgericht.
Die Mutter hatte argumentiert, dass der Gegenstand des Verfahrens eine Angelegenheit der Personenfürsorge sei, für die allein das Familiengericht zuständig sei.
Die Richterin am OLG Karlsruhe – Senat für Familiensachen – folgte der Rechtsauffassung der Mutter und hob den Beschluss des Familiengerichts Pforzheim auf: das Familiengericht sei das für die Beurteilung einer möglichen Kindswohlgefährdung zuständige Gericht, es könne die ihm per Gesetz zugewiesene Aufgabe nicht einfach auf das Verwaltungsgericht übertragen.
Der Beschluss zeigt, dass die Rechtsauffassung des Weimarer Richters Christian Dettmar rechtlich zutreffend ist. Er hatte den als Sensationsurteil bekannt gewordenen Beschluss gefasst, dass es zwei Weimarer Schulen mit sofortiger Wirkung verboten sei, den Schülerinnen und Schüler vorzuschreiben, Mund-Nasen-Bedeckungen aller Art (insbesondere qualifizierte Masken wie FFP2-Masken) zu tragen, AHA-Mindestabstände einzuhalten und/oder an SARS-CoV-2-Schnelltests teilzunehmen. Zugleich so Richter Dettmar, sei der Präsenzunterricht aufrechtzuerhalten.
Der Beschluss von Richter Dettmar ist – weltweit erstmalig – nach Auswertung von Sachverständigengutachten ergangen. Die Biologin Prof. Dr. Ulrike Kämmerer hatte eine Expertise zur fehlenden Aussagekraft der PCR-Tests erstellt. Die Hygienikerin Prof. Dr. Ines Kappstein hatte die aktuelle Studienlage zu den Masken ausgewertet und deren fehlenden Nutzen zur Virusabwehr bei gleichzeitiger Schädlichkeit der Masken für ihre Träger unter anderem durch Verkeimung festgestellt. Der Psychologe Prof. Dr. Christoph Kuhbandner hatte die psychische Beeinträchtigung der Kinder durch die Massnahmen untersucht. Der Richter folgte in seinem Beschluss den Erkenntnissen der Experten und bejahte eine Kindswohlgefährdung bei Fortsetzung der Massnahmen (Urteil im Volltext inklusive Sachverständigengutachten).
Wegen der – rechtlich korrekten – Annahme seiner Zuständigkeit war Richter Dettmar von der Staatsanwalt Erfurt und in den Medien der Rechtsbeugung bezichtigt worden. Aufgrund des Rechtsbeugungsvorwurfs wurde eine Hausdurchsuchung im Büro, im PKW und in den Privaträumlichkeiten des Richters durchgeführt, wurden sein Handy und Laptop beschlagnahmt und gespiegelt. Dem Vorgehen der Staatsanwalt gegen Richter Dettmar ist nun spätestens mit dem Beschluss aus Karlsruhe der Boden entzogen. Sein Strafverteidiger Dr. Gerhard Strate hatte sich bereits zuvor öffentlich dahingehend geäußert, dass er keinerlei Rechtsgrundlage für ein strafrechtliches Vorgehen gegen den Richter erkennen können.
Auch gegen eine Weilheimer Familienrichterin, die in einem gleichgelagerten Fall ihre Zuständigkeit bejaht und wegen Kindswohlgefährdung gegen die Maskenpflicht von zwei Schülern entschieden hatte, laufen derzeit – bei der Staatsanwaltschaft IV in München – Ermittlungen wegen Rechtsbeugung wegen Entscheidung trotz Unzuständigkeit. Für dieses Verfahren ist der Karlsruher Beschluss in gleicher Weise relevant.
Zu den familienrechtlichen Fragestellungen im Zusammenhang mit § 1666 BGB hat das Netzwerk kritischer Richter und Staatsanwälte eine umfangreiche Analyse veröffentlicht.
§ 1666 BGB lautet „Wird das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes durch mißbräuchliche Ausübung der elterlichen Sorge, durch Vernachlässigung des Kindes, durch unverschuldetes Versagen der Eltern oder durch das Verhalten eines Dritten gefährdet, so hat das Vormundschaftsgericht, wenn die Eltern nicht gewillt oder nicht in der Lage sind, die Gefahr abzuwenden, die zur Abwendung der Gefahr erforderlichen Maßnahmen zu treffen. Das Gericht kann auch Maßnahmen mit Wirkung gegen einen Dritten treffen.“
Die Norm gilt auch der Umsetzung der seit dem 15.07.2010 vorbehaltslos geltenden UN-Kinderkonvention. Darin ist unter anderem bestimmt: „Artikel 3 [Garantie des Kindeswohls] (1) Bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, gleichviel ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Gerichten, Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungsorganen getroffen werden, ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist.
(2) Die Vertragsstaaten verpflichten sich, dem Kind unter Berücksichtigung der Rechte und Pflichten seiner Eltern, seines Vormunds oder anderer für das Kind gesetzlich verantwortlicher Personen den Schutz und die Fürsorge zu gewährleisten, die zu seinem Wohlergehen notwendig sind; zu diesem Zweck treffen sie alle geeigneten Gesetzgebungs- und Verwaltungsmaßnahmen.“
Die Abwehrfunktion von § 1666 BGB richtet sich dabei nicht nur gegen Erziehungsberechtigte, die ihr Sorgerecht nicht ordnungsgemäss wahrnehmen, sondern auch gegen Dritte, die sich kindswohlverletztend verhalten. Dies können Einzelpersonen sein aber auch Institutionen wie zum Beispiel Kindergärten.
Die Richter führen aus: „Der Rechtsschutz der Kinder ist im Vergleich zum allgemeinen, auf Erwachsene bezogenen zivilrechtlichen Rechtsschutzsystem bedingt durch die Fürsorge- und Entwicklungsbedürftigkeit von Kindern und die vorrangige Übertragung der umfassenden Verantwortung für das Kind auf seine Eltern in besonderer Weise ausgestaltet… In der Gesetzesbegründung ist dazu festgehalten (BT-Drucks 16/6815, 10): „Da „das Wohl des Kindes den Richtpunkt für den Auftrag des Staates gemäß Art. 6 Abs. 2 GG“ (BVerfGE 24,119,144) bildet, muss die Gefährdung des Kindes der entscheidende Anknüpfungspunkt für das Eingreifen staatlicher Schutzmaßnahmen sein. Das Auftreten einer Schutzlücke wäre mit dem Grundrechtsschutz des Kindes als eigenständiger Persönlichkeit nicht vereinbar.“ Diese objektive Gefahr für das Kind umfasst die vorherigen Alternativen „Gefährdung durch Versagen der Eltern“ und „Gefährdung durch einen Dritten“ (vgl. MüKoBGB/Lugani BGB § 1666 Rn. 105).
Nach der Konzeption des § 1666 BGB ist allein entscheidend, dass es sich um eine Maßnahme handelt, die zur Abwendung der Gefahr unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit erforderlich ist. Dabei ist anhand der Rechtsprechung auch festzustellen, dass solche Maßnahmen bezüglich Dritter für diese teilweise weitreichende Folgen haben, wobei die familiengerichtlichen Maßnahmen auch in bestehende Miet- und Arbeitsverhältnisse eingreifen können (vgl. AG Berlin-Tiergarten, Streit 1992, 89, 90 f: Bei Verdacht sexuellen Missbrauchs durch Hausbewohner nicht Entfernung der Kinder [so Jugendamt], sondern „go-order“ gegen mutmaßlichen Täter; ähnlich AG Berlin-Wedding WuM 1992, 470 f: gewalttätiger Hausmeister ist vom Dienst zu suspendieren und von Wohnanlage fernzuhalten; OLG Köln KindPrax 1999, 95 f: Verbot, das Stadtgebiet von Kerpen zu betreten, OLG Zweibrücken Beschluss vom 05.11.1993 – 3 W 165/93, NJW 1994, 1741: Verbot in der Nachbarschaft zu wohnen).“
Die Prüfpflicht des Familiengerichts aufgrund einer Anregung gem. § 1666 BGB richtet sich dabei aber nicht nur auf privatrechtliche Organisationen wie Privatschulen, Tennisverein etc., das Wächteramt des Richters für die Kinder verlangt auch die Überprüfung staatliches Handelns auf mögliche Kindswohlgefährdung.
Die Richter schreiben: „Für eine solche teleologische Reduktion des § 1666 BGB auf nicht-staatliche Adressaten der Maßnahmen könnte sprechen, dass Sinn und Zweck der Vorschrift die Ausfüllung des staatlichen Wächteramtes ist und dass der Staat selbst nicht erst über den Umweg des staatlichen Wächteramtes dazu verpflichtet ist, Kinder nicht zu gefährden, sondern dass jegliche staatliche Stelle aufgrund der Gesetzesbindung bei ihrem Handeln ohnehin sicherstellen muss, Kinder nicht zu schädigen. Eine solche Sichtweise würde jedoch den Grundsatz der Gewaltenteilung verletzen; in diesem Rahmen ist es essenzieller Bestandteil unserer verfassungsmäßigen Ordnung, dass die drei Gewalten sich gegenseitig kontrollieren. Würde man die Rechtsmäßigkeit des Handelns einer staatlichen Stelle immer als gegeben voraussetzen, bräuchte es den Grundsatz der Gewaltenteilung nicht.
Das familienrechtliche Verfahren nach § 1666 BGB ist in mehrfacher Hinsicht durch kinder- und kinderschutzbezogene Besonderheiten geprägt, wozu auch der Beschleunigungsgrundsatz gehört. Zudem sind die Verfahren vor den Verwaltungsgerichten antrags- bzw. klageabhängig ausgestaltet, während der Gesetzgeber bei der Regelung des § 1666 BGB bewusst auf ein solches Erfordernis verzichtet hat. Letzteres ergibt sich aus der Funktion des staatlichen Wächteramtes, dessen Ausübung nicht von der Initiative Privater oder von Behörden abhängen kann (Staudinger/Coester (2020) BGB § 1666, Rn. 261).“
Das Fazit des Richternetzwerks: „Beschäftigt man sich eingehend mit der gesetzlichen Konzeption des familiengerichtlichen Verfahrens nach § 1666 BGB, §§ 24, 157 FamFG, so ist nachvollziehbar, auf welcher Grundlage die beiden Entscheidungen aus Weimar und Weilheim ergingen. Offenbar waren die zuständigen Richter aufgrund der zum Zeitpunkt des Erlasses vorliegenden Feststellungen davon überzeugt, dass Wahrscheinlichkeit und zeitliche Nähe eines Schadenseintritts derart groß waren, dass sie sich nicht nur berechtigt, sondern sogar verpflichtet sahen, eine diesbezügliche einstweilige Anordnung zu erlassen. Hierzu waren sie in Ausübung des staatlichen Wächteramtes auch befugt. So überraschend und ungewöhnlich die beiden Entscheidungen im Ergebnis sein mögen und so wenig eine solche Konstellation bislang in Rechtsprechung und Literatur in den Blick genommen wurde – es liegt kein Fehler im Bereich der Annahme des Rechtsweges, der Zuständigkeit als Familiengericht und der familienrechtlichen Methodik vor.
Bedenklich stimmt jedoch die Art und Weise der kontroversen Rezeption der beiden Entscheidungen und der darin enthaltenen Sachverständigenfeststellungen, welche letztlich nur durch die sehr dynamische und von großer Unsicherheit geprägte Situation der Corona-Pandemie erklärlich ist. Eine besonnene juristische Prüfung und Diskussion der Entscheidungen aus Weimar und Weilheim gerade in Bezug auf den Rechtsweg und die Zuständigkeit der Familiengerichte ist – soweit ersichtlich – bislang nicht erfolgt. Hierzu möchte der vorstehende Aufsatz einen Beitrag leisten. Ebenso erscheint es selbstverständlich, die den Entscheidungen zugrunde liegenden Sachverständigengutachten zunächst zu lesen und erst dann darüber in der Sache zu diskutieren.
Es bleibt zu hoffen, dass es den Gerichten gelingen wird, sich trotz dieser Schwierigkeiten mit der angemessenen Gelassenheit, Unvoreingenommenheit, Unaufgeregtheit aber auch Intensität der individuellen Sachverhalte anzunehmen, mit denen sie befasst werden.
Unabhängig davon verdient jede in richterlicher Unabhängigkeit getroffene ernsthafte Entscheidung Respekt. Derart fundierte Entscheidungen wie die des Familiengerichts Weimar als „ausbrechenden Rechtsakt“ zu bezeichnen, entbehrt aus familienrechtlicher Sicht jeder Grundlage.“
Am 1. Mai 2021 ist es in ganz Deutschland, insbesondere jedoch in Weimar, der Wirkungsstätte von Richter Dettmar, zur Niederlegung von weissen Rosen vor Gerichtsgebäuden gekommen.